Letztendlich ist er, nach 7 Jahren als Pflegefall, zuhause an Altersschwäche, den Folgen seines Hirninfarktes, in Kombination mit Demenz und Parkinson gestorben. An dem Geburtstag meiner Mutter. Auf seinem Totenschein stand Corona. Am 8.11.2023.
März 2021
Erster Lockdown
Die Coronazeit lehrt/e mich viel, auch für meine Art der Selbsthilfefotografie. Was meine Person betrifft, so bin ich noch bewusster, bedachtsamer und einsiedlerischer geworden. Auch meine heutigen Bilder zeigen sich reduzierter. Habe ich vor Corona zumeist in Farbe geschwelgt - weil der chronische Schmerz den Farbfilm vergessen hat - so präsentiere ich heute ein Drittel aller Fotos schwarz-weiß. Was nicht bedeutet, dass mein jetziges Leben weniger bunt ist. Doch liegt mein Fokus noch mehr auf dem Wesentlichen. Auch die Menschen, die heute vor meine Kamera kommen möchten, sind mehr als je zuvor nicht (!) an oberflächlichen Fotos interessiert.
Fotografieren in Coronazeiten? Therapeutisches Fotografieren, Emofotologie oder was?
Von allem etwas. Es ging ans Eingemachte und bis an die Frage: „Was bleibt?“ Damit es nicht zu traurig wurde, haben wir hier und da - also eigentlich wie immer - mit dem Galgenhumor zusammengewirkt.
Vorweg sei gesagt: Alle diese Bilder sind zu Beginn der Pandemie entstanden, als es noch galt die strengsten Sicherheitsmaßnahmen einzuhalten. Als Selbsthilfefotografin und Risikopatientin war auch ich in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt. Insbesondere waren keine Treffen mit den Selbsthilfemodels / Betroffenen auf meiner Warteliste möglich. Was mir blieb, war das „Papa-Model“. Als Angehöriger meines Haushaltes durfte mein Vater vor meine Kamera und konnte daraus tatsächlich auch seinen Nutzen ziehen.
Liebe, Glaube, Hoffnung, Galgenhumor? Oder: Wenn nur noch das Essen und Trinken, den Leib und die Seele zusammen-halten? Oder: Kann man Menschen zu Tode schützen?
Mein Vater, ein überaus kommunikativer Mensch und ein Optimist wie aus dem Buche, vermisste all die zwischenmenschlichen Kontakte, die er normalerweise pflegen darf. Ihn, als einen der geselligsten Menschen überhaupt, traf das Kontaktverbot extrem. Nicht nur, weil er seinen 85. Geburtstag nicht groß feiern durfte.
Es lag also im wahrsten Sinne des Wortes nahe, das Corona-Thema fotografisch anzugehen. Sowohl für „Papa Schulz“, wie er von allen genannt wurde, als auch für mich hatten die Fotoshootings einen therapeutischen Effekt. Er hatte Abwechslung, musste sich gedanklich darauf einlassen und sich auch ein bisschen bewegen - körperlich wie geistig. Und auch ich sortierte meine Gedanken.
Die Alten wegsperren, einsperren, aussperren?
Nachdem ich leere Straßen in „Coronacity“ fotografiert und mich dabei wie im falschen Film gefühlt hatte, wollten wir uns auch mit dem Thema der inneren Leere fotografisch beschäftigen.
Mein Vater hatte auch als Pflegefall seinen Lebensmut nie verloren. Nicht zuletzt, weil er neue Freude und Freunde in der Tagespflege, die er normalerweise 3 x die Woche besucht, hatte finden können. Im Paritätischen Uelzen. Doch plötzlich war er isoliert. Coronaregelkonform.
Ich habe ihn und mich gefragt: „Wie fühlt man(n) sich dabei? Wie müssen sich die alten Menschen fühlen, die niemanden so dichte bei sich haben? Was passiert in und mit jenen Menschen, die nicht zu den Optimisten zählen? Wie ist das, vor lauter Einsamkeit zu sterben?“
Mein Vater hatte noch das „Glück“, dass er sich jeden Tag mit mir streiten konnte. Natürlich gingen wir uns auch auf die Nerven. Jeden Tag erzählte er dieselben Geschichten oder fragte jedes Mal, wenn er mich sah: „Was gibt´s Neues?“ Wenn er mich nicht sah, dummdudelte ihn der Fernseher nonstop und auf voller Lautstärke in einen lähmenden Halbschlaf. Auch für meine Mutter war diese Zeit hart. Kein ablenkender Einkaufsbummel, kein Kaffeetrinken in der Stadt. Ihre Gesellschaft bestand aus meinem Vater, mir und unserem Hund.
Manchmal fragten wir uns: Wollen wir um jeden Preis dem Leben mehr Tage geben? Oder doch lieber den letzten Tagen mehr Leben? Würde die Selbstmordrate allerorten steigen? Lässt sich "Tod durch Einsamkeit" diagnostizieren? Ich bin ein Zuversicht verbreitender Mensch, doch ich musste mich diesen Fragen stellen und habe diese für mich auch beantwortet. Auch mithilfe der Coronashootings.
Alle unsere damaligen Fotoszenarien habe ich mit Papa Schulz vorher diskutiert. Er, der mittlerweile als „unterbezahltes“ Teilzeitseniorenmodel weiterjobben wollte, war immer stolz auf seine Bilder. Es war ihm auch wirklich wichtig, dass echte Gefühle und seine Gedanken zum Ausdruck kamen.
Wenn er nicht mir darüber reden konnte, hat er mit Pixel-Paul geplaudert. Pixel-Paul, eine lebensgroße alte Puppe aus meinem Requisitenfundus war der einzige Altersgenosse, mit dem er sich hatte treffen dürfen. „Wie konnte es so weit kommen, dass ich mit einer Puppe rede?“
Wer wie mein Vater nicht selbstständig über die digitalen Medien mit anderen Menschen zu kommunizieren vermochte, hatte mehr als ein Problem: „Wir Alten dürfen gar nix mehr.“ Er fühlte sich ein- und ausgesperrt. Vor Coronaviren hatte er keine Angst: „Ich habe den Krieg, Typhus und den Schlaganfall überlebt. Da wird mich so eine Grippe nicht umbringen.“ Er mochte das Leben, das ihm noch blieb, leben. Erleben. Gesellig. Nicht in der Isolation. Er hat respektiert, dass andere geschützt werden wollten und sich an die Regeln gehalten. Aber über Sitz- oder Liegestreik hatte er schon nachgedacht: „Wenigstens für ein Foto?“
Selbstverständlich haben wir unter Einhalt der höchsten Sicherheitsvorkehrungen geshootet. Zwar hat die schwarze Pest unter der Kapuze und hinter den Masken Schnappatmung bekommen, aber wat mutt, dat mutt: Alltagsmasken, Sicherheitsabstand, Spuckschutzscheiben, Abstandshalter, Kameras in Folie, Einmalhandschuhe, Desinfektionsspray … und viel Frischluft. Damit mein Papamodel nie frieren musste, lagen an den kühleren Fototagen Heizkissen auf den Sitzmöbeln. Die Fotos sind im März, April und Mai entstanden.
Für uns bestand, was die Fototage betrifft, die größte Gesundheitsgefahr vermutlich darin, einen Lachmuskelkater zu erleiden. Doch natürlich kullerten ab und an die Tränen. Die Emofotologie, ist keine Fassadenfotografie, sondern hilft zu hinterfragen. Was letztlich auch der Selbstorientierung zu dienen vermag. Papa Schulz und ich wurden uns jedenfalls bewusst, welche Konsequenzen wir aus jener Coronazeit ziehen möchten.
Wie ich heute weiß, haben sich einige Menschen damals weniger einsam gefühlt haben als zuvor. Weil plötzlich so viele einsam waren und geteiltes Leid halbes Leid ist. Weil Gedanken aufkamen, im Sinne von: „Jetzt merkt ihr mal, wie ich mich immer fühle“. Jene Betroffenen hofften, dass sich durch die Coronakrise für sie etwas nachhaltig ändern würde. Denn: Nichts ist schlimmer, als sich einsam zu fühlen, wenn es alle anderen scheinbar nicht sind. Einsamkeit ist die eigentliche Volkskrankheit Nummer 1.
Die Vorbereitungen
Mit meinem Seniorenteilzeitmodel konnte ich vor jedem Fototag die jeweilige Thematik in Ruhe diskutieren. Zusätzlich habe ich Storyboards erstellt und bei Bedarf improvisiert – letzteres auch im Hinblick auf die jeweilige Tages- bzw. Stundenform meines Vaters. Mir ist bewusst, dass die Lichtverhältnisse meistens nicht ideal waren, genauso wenig wie die Shootingplätze. Weil wir immer nur einige Meter gehen und nie lange machen konnten. Dafür sind alle gezeigten Emotionen echt. Auch wenn ich die Porträtsituationen teilweise inszeniert habe, wie z.B. das Arrangement mit dem Weck-Glas. Ihn hat es – trotz aller Vorbesprechungen - völlig umgehauen als er „sein Eingemachtes“ in die zittrigen Hände nehmen sollte - als er wirklich begriffen hat. Es hat ihn auch umgehauen, als er an dem zerschnittenen Maßband bewusst gesehen hat, wie wenig Lebenszeit ihm schätzungsweise noch bleibt.
Die Nachbereitungen
Nach jeder Fotositzung habe ich eine Bildervorauswahl getroffen und diese einige Stunden später von meinen Vater auf einem großen Bildschirm anschauen lassen und mit ihm besprochen. Außerdem habe ich jedes Mal eine Auswahl und einen Begleittext bei Facebook veröffentlicht. Die darauffolgenden, stets motivierenden Kommentare und Grüße, habe ich ihm vorgelesen und seine Antworten gepostet. Somit hat ihn jedes Shooting über mehrere Tage hinweg aktiv beschäftigen können.
Fazit: Für meinen Vater waren die Fotoaktionen die schönstmögliche und sinnvollste Abwechslung in jenen Coronazeiten – und zugleich verblödungsvorbeugend. Er zeigte seine Bilder immer gerne und war stolzer Besitzer einer Modelmappe. Zu alledem wurden einige dieser Aufnahmen Teil einer Ausstellung. Das Maulkorbbild ist bis heute dabei.
Und es war sein ausdrücklicher Wunsch sich bis zum Schluss von mir ablichten zu lassen.
Letztendlich ist er, nach 7 Jahren als Pflegefall, zuhause an Altersschwäche, den Folgen seines Hirninfarktes, in Kombination mit Demenz und Parkinson gestorben. An dem Geburtstag meiner Mutter. Auf seinem Totenschein stand Corona. Am 8.11.2023.