Sozusagen: „Ich möchte wieder auf beiden Beinen mitten im Leben stehen können.“
„Ich möchte informieren. Ich möchte aufrütteln.“
Auch in dieser Woche durfte ich eine bemerkenswerte Frau kennenlernen und bin, wie immer dankbar, dass mir so viel Vertrauen entgegengebracht wird. Raphaela ist aus Bayern zu uns nach Uelzen angereist, um ihre Geschichte erzählen zu können und um über ein ganz wichtiges Accessoire (?) an ihrem Handgelenk zu informieren.
Für uns schreibt sie selbst: Eine 7-Jährige, die sich mit einem Hammer auf die Hand schlägt. Eine 10-Jährige, die Zigaretten auf dem Körper ausdrückt. Eine 18-Jährige, die aufhört zu essen und anfängt sich mit Rasierklingen zu schneiden. Eine 21-Jährige, die sich Rohrreiniger über den Körper gießt. Eine 22-Jährige, die eine ausgeprägte Epilepsie entwickelt ...
Wer so was macht?
Mein Name ist Raphaela. Ich bin 37 Jahre und psychisch krank. Nicht mal meine Eltern wissen, wie lange sich das schon zieht.
Mein Alltag gestaltet sich an einigen Tagen besonders schwer. Ich leide an einer Persönlichkeitsstörung mit selbstverletzendem Verhalten, das sehr stark ausgeprägt ist. Sowie an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sowie an einer Epilepsie. Sowie an einer Essstörung, die ich mittlerweile im Griff habe.
Wenn auch unabsichtlich, werden Erkrankungen dieser Art meist viel zu spät erkannt. Oder - wie auch bei mir - zu gut versteckt. Offene Wunden zum Beispiel, waren für mich nie ein Problem. Ich zog langärmelige Kleidung an und verletzte mich dort, wo es niemand sehen konnte. Irgendwann habe ich Gegenstände wie Rasierklingen geschluckt. Dass meine Erkrankung nicht zu bemerken ist, kann ich jetzt natürlich nicht mehr behaupten.
Vor 2 Jahren habe ich angefangen, mich mit Rohrreiniger zu verletzen. Das Ergebnis? Ich habe ein Bein bis zum Oberschenkel verloren. Oberschenkel-amputation nach manipulierter Selbstverletzung mit gefolgter Sepsis.
Dabei wollte ich nie Aufmerksamkeit. Es war und ist reine Zerstörungswut. Ihr fragt euch nun: hätte da nicht eine Therapie gereicht? Eine? Ich habe viele hinter mir. Ob freiwillig oder unfreiwillig - ernst genommen habe ich die Therapien nie. Weil - irgendwie waren meine (Zer)Störungen auch wie ein kleiner Freund oder Retter. Ich musste nichts mehr aushalten, MICH nicht mehr aushalten. Ich konnte mich zerstören und so hoffentlich verschwinden.
Jetzt bereue ich. Nicht nur weil ich in einer geschlossenen Einrichtung für psychiatrisch erkrankte Menschen lebe. Ich habe Lebenszeit verloren, wurde durch das Schlucken der Klingen zu oft operiert … und habe mein Bein verloren. Damit - bzw. ohne das - kann auch immer noch nicht gut umgehen. Aber jetzt packe ich es an.
Ich möchte eine DBT, eine spezielle Therapie für Persönlichkeitsstörung, beginnen. Ich habe zwar schon eine hinter mir, in der ich aber leider mehr gelernt habe, wie ich mich verletzen kann. Doch jetzt:
ICH WILL LEBEN LERNEN. Um so vielleicht wieder wirklich auf beiden Beinen im Leben stehen zu können.
Ich will auch Betroffene ermutigen und unser soziales Umfeld wachrütteln.
Schaut genauer hin.
Gleichzeitig möchte ich auf die Problematiken meiner Epilepsie und Ohnmachts-anfälle eingehen. Nicht nur wegen der psychischen Probleme nehme ich Medikamente, nein, auch wegen der Epilepsie, die häufig durch psychischen Stress ausgelöst wird.
Wo mein Notfallmedikament ist oder, dass ich einen Port für Zugänge habe, kann niemand wissen. Doch es ist wichtig, dass im Notfall Ersthelfer*innen / Ärzt*innen unverzüglich einen Einblick in diese Daten bekommen können.
Deshalb trage ich ein SOS-ID Armband (ID-NO.COM). Dort sind Name, Alter, Angehörige, Medikamente, Allergien, Krankheiten … verzeichnet. Sowie alles, was zu tun ist. Um an diese Infos zu kommen: Please turn. Auf der Rückseite befindet sich ein QR-Code, der gescannt werden kann, um alle notwendigen Informationen erhalten zu können. Dabei wird der Datenschutz nicht vernachlässigt.
Trotz der großen Hilfe, die durch das Armband erfolgen kann, kennt es kaum ein Laie und auch nur wenige Fachkräfte. Also: falls ihr im Notfall so ein Armband entdeckt – bitte nicht zögern. Code scannen und so handeln.
PS von Brigitte: Die Menschen, die sich vor meine Kamera wagen, unterschreiben einen Modelvertrag. Wir entscheiden – aus mehreren Gründen gemeinsam, was veröffentlicht werden sollte. Sowohl vor dem Fototag als auch nach der Veröffentlichung finden tiefgehende Gespräche statt. Ich mache keine Fotos to go und bin mir meiner Verantwortung bewusst. Die Würde des Menschen ist unantastbar.